Q2 2023 - Klimaziele der Schweiz: an der Urne und vor EGMR

 

Ein Beitrag von 

Marc Grüninger 
Patrizia Lorenzi

 

In der Streitsache "Verein KlimaSeniorinnen and Others vs Switzerland" (Application no. 53600/20) hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eine Klage von international weit beachteter Bedeutung zu beurteilen. Ihrer Klage legen die KlimaSeniorinnen im Wesentlichen die Verletzung von Artikel 2 und 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zugrunde. Artikel 2 EMRK garantiert das Recht auf Leben und Artikel 8 EMRK das Recht auf Privat- und Familienleben. Mit diesen Rechten verbunden sind staatliche Schutzpflichten, die auch die schweizerische Regierung treffen und die angeblich durch die aktuelle Klimagesetzgebung nicht wahrgenommen würden. Die Klägerinnen sind ältere Frauen, die aufgrund der nachweislich gehäuften Hitzewellen gesundheitlich stärker betroffen seien. Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung treffe sie bei Hitzeextremen ein deutlich höheres Krankheits- und Sterberisiko.

Die KlimaSeniorinnen sind der Auffassung, dass die Schweiz ihre Schutzpflichten verletze. So fehlten verbindliche Klimaziele oder seien diese ungenügend, um eine Begrenzung der Erwärmung von mehr als 1.5° C zu erreichen und die inländischen Treibhausgasemissionen zu reduzieren. Die Klägerinnen fordern, dass die in der Schweiz anfallenden Treibhausgasemissionen mit inländischen Massnahmen bis 2030 um mehr als 60 % gesenkt werden müssten und dass die Schweiz zudem mit inländischen Massnahmen umfangreiche Emissionsreduktionen im Ausland ermöglichen müsse.

Vor der Anrufung des EGMR schöpften die KlimaSeniorinnen den schweizerischen Rechtsweg aus. Das Bundesgericht als letzte nationale Instanz wies jedoch ihre Beschwerde mit Urteil vom 5. Mai 2020 (BGer 1C_37/2019) ab. Das Bundesgericht vertrat die Auffassung, dass das Recht auf Leben und Gesundheit der KlimaSeniorinnen im Urteilszeitpunkt nicht in einem genügenden Ausmass bedroht gewesen sei und dass noch Zeit bliebe, um den Wert der Klimaerwärmung von deutlich unter 2° Celsius zu erreichen. Weder die KlimaSeniorinnen noch dir restliche Bevölkerung könne solche Anliegen auf dem Rechtsweg erstreiten. Dafür stünden in der Schweiz die politischen Mittel zur Verfügung. Zudem sei im Übrigen das Grundrecht auf Leben nicht in rechtlich relevanter Weise betroffen.

Vom EGMR wird nun die nach dem Abweisungsentscheid des Bundesgerichts eingereichte Klage der KlimaSeniorinnen aufgrund ihrer Bedeutung von der Grossen Kammer des EGMR mit 17 Mitgliedern behandelt. Die Grosse Kammer stellte die Fragen, ob die Schweiz ein nationales CO2-Budget habe, um den globalen Temperaturanstieg auf 1.5° C zu begrenzen (gemäss Pariser Abkommen), und wie die Schweiz ein ihr noch verbleibendes CO2-Budget für die Festlegung der eigenen Klimaziele berechne. Des Weiteren stellte der EGMR die Frage, wie nach der Meinung der Schweiz der gerechte Beitrag (der sog. «fair share») zur Einhaltung des globalen CO2-Budgets berechnet werden soll. Die entsprechenden Antworten der Schweiz wurden von den Klägerinnen erwartungsgemäss scharf kritisiert.

Die Schweiz hat in ihren Stellungnahmen an den EGMR unter anderem auch auf den indirekten Gegenvorschlag zur Gletscher-Initiative hingewiesen, dem Entwurf zum Bundesgesetz über die Ziele im Klimaschutz, die Innovation und die Stärkung der Energiesicherheit (KIG). Die Schweiz hat geltend gemacht, dass mit dem KIG die Klimaziele und Massnahmen verbindlich festgelegt würden. Während die Gletscher-Initiative unter anderem ein komplettes Verbot des Verbrauchs fossiler Energieträger ab 2050 vorsieht, ist es das Ziel des KIG, eine klimaneutrale Schweiz bis 2050, eine Reduktion (aber kein Verbot) vom Verbrauch fossiler Energieträger wie Öl und Gas und einem Ausgleich der verbleibenden Treibhausgasemissionen zu erreichen. Zudem sollen die unvermeidbaren Folgen des Klimawandels gelindert werden.

Mit der Volksabstimmung vom 18. Juni 2023 hat das Volk das neue Bundesgesetz über die Ziele im Klimaschutz, die Innovation und die Stärkung der Energiesicherheit gutgeheissen.

Im Verfahren vor dem EGMR wird dieser Volksentscheid die Position der Schweiz stärken. Ob damit ein Urteil zugunsten der Schweiz erwartet werden kann, bleibt offen. Das Urteil der Grossen Kammer des EGMR wird frühestens Ende Jahr 2023 erwartet.

 

 

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